Fotos: Rita Palanikumar für Sweet Home
Michelle Nicol und Rudolf Schürmann sitzen bei unserem Eintreffen auf der grossen Veranda. Vis-à-vis, vertieft in die Bildschirme ihrer Computer. Sie kommen nicht nur in die Ferien ins Tessin, sondern leben immer öfter hier. Dass es mehr als Liebe ist, was sie mit ihrem besonderen Haus verbindet, wird schnell klar. Doch zuerst zeigt uns Rudolf an diesem heissen Sommertag das naheliegende Schwimmbad, wo wir Eiscafé trinken und auf dem Rückweg das Grab von Meret Oppenheim besuchen. Michelle hat noch einen wichtigen Call mit Kunden.
Die Kunsthistorikerin und der Stratege und Creativedirector sind die Besitzer der Beratungs- und Kommunikationsagentur Neutral Zurich, die sie zusammen 2001 gegründet haben. Schon von Anfang an leisteten sie Pionierarbeit, indem sie Architektur, Kunst, Wissenschaft, Mode und Design auf ganz selbstverständliche Art ineinanderfliessen lassen. Das für Marken, Städte, Firmen und Institutionen.
Zurück im Haus bekommen wir eine spannende Führung des leidenschaftlichen Architekturliebhabers Rudolf Schürmann: «Es ist ein Typenhaus von Atelier 5 und wurde in den frühen Sechzigerjahren gebaut. Das Architekturbüro Atelier 5 wurde 1955 von Erwin Fritz, Samuel Gerber, Rolf Hesterberg, Hans Hostettler und Alfredo Pini gegründet. Das grosse Vorbild der jungen Architekten war Le Corbusier.»
Das spürt man in dem modernistischen Haus im Tessiner Dorf Carona nicht nur in vielen Details, sondern auch in der Anmutung und der cleveren Raumaufteilung. Und doch ist es anders, eigen und verbindet sich auf interessante Weise mit dem Dorf und dessen traditionellen Bauten. Da ist erst mal der warme rustikale Verputz, der die Betonmauern einkleidet. Die raue Textur zeigt kleine Steine und einen erdig beigebraunen Ton, der die Farbigkeit der Umgebung aufnimmt.
Ein anderes Element, welches das Haus Citron stark prägt, sind drei Gewölbebögen, die ihm auf modernistische Art eine gewisse italienische Grandezza verleihen. Den Namen hat das Haus von dem Apotheker, für den es einmal gebaut wurde und nicht etwa wegen Zitronenbäumen, denn davon sind keine da. Im Winter wird es ziemlich kalt und hat nicht selten Schnee. Dafür wachsen andere Bäume, wie ein Nespole- oder ein Khakibaum, und es gibt einen terrassierten Hügel, der zum Grundstück gehört. «Alles steht unter strengem Heimatschutz», erklärt Michelle.
Wunderschön sind hier die Innenseiten der Bögen zu sehen. Sie sind wie Arkaden. Die terracottafarbenen Backsteine verleihen dem strengen Haus Wärme und Textur. Zwei Bögen umfassen den Wohnraum, einer die Terrasse. Der Innenausbau strahlt eine schlichte, aber betörende und raffinierte Eleganz aus. Absolut faszinierend, genial und wunderschön ist der Umgang mit dem Glas und den Fenstern. Im Gegensatz zu den heutigen Häusern mit grossen Fensterfronten, gingen die Architekten hier sinnlicher und diskreter mit dem Glas um. Nicht alle Fenster bieten Aussicht. Die meist grösseren Flächen sind milchig matt und nicht transparent.
Dabei wurde das Glas nicht etwa mit Folie überklebt oder gefärbt. In einer Sandwichtechnik befindet sich zwischen zwei Glasscheiben weisser Seidenstoff. Das verleiht dem Glas etwas Magisches, fast Übersinnliches. Die anderen Fenster bieten Aussicht und haben weisse Rouleaux als Sonnenschutz. Das Licht im Raum ist hell, freundlich und sehr sanft. Das auch an diesem superheissen Sommertag von unserem Besuch.
«In diesen Räumen fühlen wir uns wohl, sie sind perfekt konzipiert», schwärmt Rudolf. «Schweizer Minimalismus trifft auf italienische Monumentalität.» So hat das Paar die Möbel mit grossem Respekt zur Architektur gewählt. Sie passen zum Stil, zur Zeit und zum Ort. «Das Sofa D70 wurde 1955 vom italienischen Designer und Architekten Osvaldo Borsani entworfen und lässt sich in viele verschiedene Positionen richten. Flach ist es ein Bettsofa und perfekt, wenn wir Familienbesuch haben.»
Dazu stehen der grosse Sessel Grand Repos von Jean Prouvé und der kleine LCM mit Lederauflage von Eames. Als eine Art Alleskönner dient der elfenbeinfarbene Patchwork Pouf von DeSede in der Mitte. «Das übergrosse Cheminée wirkt wie eine Skulptur, ist ein tolles Objekt und passt in ein Tessiner Haus. Wir haben es mit einem Heizeinsatz mit Ventilation versehen und es wieder schwarz gestrichen, der Originalfarbe der 60er-Jahre.»
Das Paar hat sich an ein neues Heizsystem anschliessen lassen. Es handelt sich dabei um ein nachhaltiges Gemeindeprojekt, welches Heisswasser aus Holz der umliegenden Wälder produziert. Das Fernheizwerk befindet sich im Keller des Schwimmbads. Die schlichten schwarzen Heizkörper von Runtal fügen sich harmonisch ein in die Architektur und passen zu den Möbeln.
Als Esstisch dient der skulpturale runde «Il Colonnato» von Mario Bellini für Cassina aus den 70er-Jahren. Er ist aus persischem Marmor. Seine säulenartigen runden Füsse verengen sich konisch nach oben. Dazu kombiniert: filigrane kubische Stühle von Alias. «Sie haben aus schwarzem Bast geflochtene Sitzflächen und Lehnen und sind für uns eine Art modernistische Interpretation des Tessiner Stuhls», erklärt Rudolf die Wahl.
In dieser Umgebung ist die Corbusierliege am richtigen Platz. Dazu gestellt, so graziös wie ein schwarzer Schwan, das kleine Tischchen Cicognino von Franco Albini.
Dank der Seide in den Fenstern, der harmonischen grafischen Aufteilung, den dünnen, dunklen Rahmen und der cleveren Verbindung von Architektur und Mobiliar haben die Räume etwas Japanisches in ihrer Anmutung. Auf diesem Bild wird sehr schön ersichtlich, wie die Architekten mit den Fenstern gespielt haben. Sie haben schlichte Regale eingebaut und vermeiden somit, dass es zu wenig Platz hat für Möbel und Staufläche, wie dies in vielen modernen Bauten der Fall ist.
Rudolf hat es sich auf der Terrasse, auf dem himmelblauen Liegestuhl von Huldreich Altorfer für Embru, bequem gemacht und arbeitet. Er führt seine Leidenschaft für Architektur auch beruflich weiter. Als er uns gestand, «von guter Architektur umgeben zu sein, ist mit das Wichtigste», ist das eine Liebeserklärung an dieses Haus. Aktuell konzipiert er eine Wohnskulptur für mehrere Parteien in wunderschöner Landschaft in Uri. «Sie ist für Menschen, die Wohnen und Arbeiten in inspirierender und nachhaltiger Umgebung verbinden möchten. Es wird einen Wohnteil geben, ein Atelier und einen gemeinschaftlichen Bereich.»
Da das Haus in einen steilen Hang gebaut ist, sind Terrasse und Veranda eines. Sie sind aber mit dicken Mauern mit Guckloch vom Garten abgegrenzt. Die Architektur bietet trotz den klaren Linien und den schlichten Formen viele Winkel, Ecken, Durchgänge und spannende Räume.
Ein sehr gelungener Raum ist die Küche, die auf die Nordseite gebaut ist. Das grosse Fenster macht die kleine Küche luftig und hell und bietet eine schöne Aussicht.
«Wir haben eine kleine Modulküche von Bulthaup gewählt, die aber schon ein Weile nicht mehr im Sortiment ist. Sie passt genau rein, nicht nur in der Grösse, sondern auch stilmässig.» Beeindruckt ist Rudolf von dem schlichten, rudimentären, aber sehr effizienten Abzug. Es ist ein Ventilator, der die Kochdüfte direkt nach draussen transportiert. Auf den gewellten Kunststoffschalen, die Rudolf schon seit seinem 25. Lebensjahr von Wohnort zu Wohnort begleiten, locken reife Aprikosen. Auch hier ist das Glas dahinter matt, mit Seide gefüttert.
«Die wunderbaren Schränke oder die schlichten weissen Leuchten mit indirektem Licht gehören zur Architektur und waren einfach da», schwärmt Rudolph weiter von seinem Architekten-Haus. Auch hier sind wieder schmale Durchgänge eingebaut. Der eine führt in den hinteren Teil der Küche, wo der Kühlschrank steht, der andere, auf der Rückseite des Schranks, in die Schlafzimmer und ins Bad.
Die schmalen Gänge erzeugen Weitsicht und schaffen es, dass man sich in einem relativ kleinen Haus wie in einer grossen Villa fühlt.
Das Haus hat zwei kleine Schlafzimmer, die aber genau die richtige Grösse haben, damit alles Platz hat und man sich wohlfühlt. Auch hier im «Master Bedroom» befindet sich ein japanisch anmutender Einbauschrank. Es gibt noch ein zweites Schlafzimmer, das als Gästezimmer dient. Beide Schlafzimmer haben je einen kleinen Balkon und Fenster mit Sicht die Berge. Für die Böden in den Schlafzimmern haben Michelle und Rudolf einen hochflorigen, grauen Teppich gewählt, der optisch mit dem Steinboden in den übrigen Räumen verwandt ist.
Die Terrasse umhüllt den Wohnraum mit einer Art schmalem Balkon, der wie die Gänge im Innen- und Aussenbereich neuen und spannenden Raum schafft. Michelle Nicol zeigt uns die Aussicht und erzählt, dass sie auch Kunden in der Nähe haben. So arbeiten sie zum Beispiel für das Masi, das Museum d’Arte della Svizzera Italiana, oder für die Stadt Lugano, für welche sie aktuell zusammen mit dem Sindaco Marco Borradori die neue Identität und Kampagne entwickeln. Michelles Lieblingsprojekt ist die Entwicklung einer Neutral Division, welche «intelligente Influencer» aus den Bereichen Kunst, Literatur, Architektur und Design anbietet und mit ihnen sinnfällige und magische Inhalte entwickelt.
Das Dorf Carona ist ein besonderes Tessinerdorf, wie das Paar uns erzählt. Es zog schon immer Künstler und Kulturschaffende an. So hat nicht nur die Schweizer Künstlerin Meret Oppenheim hier gelebt, auch Hermann Hesse war in Carona. Die Geschichten von Hesse und Oppenheim sind verbunden. Meret Oppenheims Mutter ist Eva Wenger, und ihre Schwester Ruth Wenger war die zweite Ehefrau von Hesse. Das Casa Costanza gehörte den Eltern von Eva und Ruth. Deren Mutter Lisa Wenger war übrigens Kinderbuchautorin und berühmt für das Buch «Joggeli söll ga Birli schüttle».
Meret Oppenheim hat aus dem Haus ihrer Grosseltern ein Gesamtkunstwerk gemacht. Ihre Schwägerin Birgit Wenger wohnt immer noch in der Casa Costanza. Michael Wenger, der Neffe, und Lisa Wenger, die Nichte, wohnen im Haus nebenan. Lisa kümmert sich um den Nachlass von Meret Oppenheim und um die Literatur über die berühmte Künstlerin. Sie ist für das Paar nicht nur dank den gemeinsamen Interessen zu einer Freundin geworden. Michelle erzählt uns, dass auch der Künstler David Weiss in den 70er-Jahren in dem Haus der beiden gewohnt hat. In einer Kommune. Als gelernter Bildhauer meisselte er damals in Lisas Chemineé einen Drachen.
Spannende Ecken und Fensterspalten sind das Erste, das man sieht, wenn man die Steintreppe zur Casa Citron hinaufsteigt. Durch die unterschiedlichen Komplexe, die verschachtelt ineinander gebaut sind, wirkt das Haus eher diskret als dominant und fügt sich harmonisch in die Landschaft ein.
Am Eingang haben Michelle und Rudolf sich für einen Schweizer Klassiker entschieden, den Wogg-Schrank. Auf diesen liessen sie, wie auf einer Ehrentafel, die kleine Architekturgeschichte des Hauses drucken. Und von dieser Geschichte nehmen wir viele spannende Kapitel mit beim Abschied.
Die Links von Michelle Nicol und Rudolf Schürmann: Neutral Zurich,
Instagram: @michellejeanettenicol, @rudolfschuermann, @neutralzurich
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